825 Jahre Romrod: Romrod – gestern und heute
Ein Beitrag von Horst Blaschko
Mit rund 1600 Einwohnern ist Romrod der größte Ortsteil der Stadt Romrod und einer der größeren Orte im nördlichen unteren Vogelsberg. Wesentlich für die frühe Entwicklung des Ortes war die Lage an der alten Straße “Durch die kurzen Hessen”, die heutige Bundesstraße 49, sowie das aus einer Wasserburg hervorgegangene Schloss. Die Übernahme der Burg durch die Landgrafen von Hessen im Jahre 1385 gaben dem damaligen Ort Wachstumsimpulse, die sich in der Verleihung eines Befreiungsbriefes im Jahre 1408, der späteren Verleihung der Stadtrechte im 16. Jahrhundert, dem Neubau des Schlosses von 1578 bis 1587 und einer Reihe von Märkten und repräsentativen Neubauten (Weinhaus, Rathaus) niederschlugen.
Steter sozialer Wandel
Nach dem Absinken zu einer reinen Ackerbürgergemeinde im Zuge des wirtschaftlichen Niedergangs in Mitteleuropa seit Ende des 16. Jahrhunderts kam es erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder zu einem stärkeren Bedeutungsgewinn des Ortes. Die zeitweilige Ansiedlung des Landratsamtes (1821 bis 1830) und anderer staatlicher Behörden (Forstbehörde, Amtsgerichtsbarkeit) hatte eine von rein landwirtschaftlich geprägten Orten abweichende stärkere soziale und berufliche Gliederung der örtlichen Gesellschaft zur Folge, was auch später für den Ort charakteristisch bleibt. Die seit den 1870er Jahren festzustellenden Bevölkerungsverluste signalisieren dann den wirtschaftlichen und sozialen Wandel im damaligen so genannten “Deutschen Reich”, der Bevölkerungsabwanderung in die sich entwickelnden industriellen Zentren als auch ins Ausland zur Folge hat. Diese Bevölkerungsverluste werden erst durch die Zuweisung von evakuierten Personen aus den im Zuge des 2. Weltkriegs zerstörten Städten sowie von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches nach Ende des Krieges wieder ausgeglichen. Die Folge ist eine starke soziale und konfessionelle Differenzierung der Wohnbevölkerung, insbesondere in den Jahren nach 1944.
Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg
Nach dem 1. Weltkrieg erlebte der Ort in den 1920er Jahren eine stetig steigende Geburtenzahl. „Das Arbeitsleben war geprägt von den landwirtschaftlichen Arbeiten und von anderem Broterwerb, der sich vor allem im Winter im Wald und in der Gemeinde anbot. Krankenversichert waren viele Familien oftmals nur im Winter, wenn man als Holzmacher für das Forstamt arbeitete. In extrem kalten Wintern froren oftmals die Wasserleitungen kaputt. Dann mußte das Wasser am Schlossbrunnen oder im Hof des Forstamtes geholt werden.“ (Aus den Lebenserinnerungen einer früheren Bewohnerin.)
Neben der Landwirtschaft prägten die Arbeitsmöglichkeiten in der gewerblichen Wirtschaft der Region, aber auch Saisonarbeit wie die Tätigkeit als Schwellenhauer in den waldreichen Gegenden Hessens oder in der westfälischen Industrie die Einkommens- und Lebenssituation. Elektrifizierung und langsam eindringende Motorisierung leiteten den Übergang in die gesellschaftlichen und technischen Umwälzungen der 1930er Jahre ein.
Romrod zur Zeit des Nationalsozialismus
Anfang der 1930er Jahre war die Zeit auch in Romrod politisch bewegt. „Es ging darum, Hitler zu wählen, dafür auch die vielen Transparente, die über der Straße angebracht waren. Die alten Leute wurden zur Wahl schon von den sog. Gelbhosen [Anm.: nach der Farbe der Uniformhose der SA genannt] zum Wahllokal und zurückgebracht.“ (Aus den Lebenserinnerungen einer früheren Bewohnerin.)
Bereits vor der Übergabe der politisch-institutionellen Macht an die Nationalsozialisten im Jahre 1933 wurde deren Vorsitzender Adolf Hitler in Romrod 1932 per Gemeinderatsbeschluss zum Ehrenbürger ernannt. Auch die in dieser Zeit durch die örtlichen Parteiaktivisten durchgesetzte sog. “Gleichschaltung” von örtlichen Vereinen und Organisationen unterschied sich in Nichts von der überall in Deutschland vorgenommenen politischen Gleichschaltung zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Ideologie. Besonders darunter zu leiden hatten die im Ort noch lebenden drei jüdischen Familien.
Ab diesem Zeitpunkt setzten auch in Romrod tätliche Übergriffe und Überfälle auf die jüdischen Familien durch ortsansässige Nazis ein. Aufgrund von Terror, Ausgrenzung und Angriffen auf Leib und Leben, bei denen eine Frau im Zuge eines nächtlichen Überfalls auf das Wohnhaus einer jüdischen Familie zu Tode kam, sahen die Familien Fischer, Lorsch und Stern für sich keine Zukunft mehr in Romrod. Die jüdische Gemeinde verkaufte das Anwesen, welches die Synagoge beherbergte, im Oktober 1935 an einen Romröder Landwirt, nachdem sich die Gemeinde (mit Genehmigung des zuständigen Rabbiners Dr. Sander) im selben Jahr aufgelöst hatte. Bis Ende 1938 verließen die jüdischen Familien nach und nach Romrod. In der Folgezeit wurde das Gebäude vom neuen Eigentümer als Scheune genutzt. 1992 erwarb die Stadt Romrod das Anwesen. Fördermittel der europäischen Union und des Hessischen Landesamts für Denkmalpflege ermöglichten die denkmalgerechte Sanierung der ehemaligen Synagoge zwischen den Jahren 2003 bis 2005.
Die 1930er und frühen 1940er Jahre waren auch in Romrod durch den Wandel, der die Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland bestimmt, geprägt. Militarisierung, Durchsetzung nationalsozialistischer Denk- und Verhaltensweisen, stärkere Sichtbarkeit ortsfremder Bevölkerung durch die Nähe des Reichsautobahnlagers, durch die zeitweise Nutzung des Schlosses als Erholungsheim der Landesversicherungsanstalt und später als zeitweises Versteck der sogenannten “Gauleitung” prägten das Leben in der örtlichen Gesellschaft. Ab etwa 1943 setzte ein vermehrter Zuzug von Evakuierten aus den bombardierten Städten mit den damit verbundenen Unterbringungs- und Versorgungsproblemen ein. Mit dem Ende der Naziherrschaft in Romrod, faktisch mit der Flucht der Gauleitung aus dem Schloss und dessen anschließender Plünderung Anfang 1945, trat die Organisation des örtlichen Lebens in eine neue Phase.
Die Jahre nach dem 2. Weltkrieg
Bestimmend für das örtliche soziale und kulturelle Leben in Romrod ab dieser Zeit und während der folgenden Jahrzehnte war das Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, einerseits der sogenannten “Alteingesessenen” (wobei sich diese weiter ausdifferenzierten in landwirtschaftlich und gewerblich Erwerbstätige), andererseits vor allem die sogenannten “Heimatvertriebenen” aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reiches.
Die Nutzung des in der Ortsmitte stehenden Schlosses seit Kriegsende als Notunterkunft für Menschen und Familien mit geringem Einkommen, mit wenig Besitz und/oder verlorener Heimat war eine Grundlage für den in Romrod damals das Leben prägenden Mikrokosmos. Auch wenn es Zeit brauchte, übte das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe und kultureller Eigenheiten die örtliche Gesellschaft trotz aller Widrigkeiten und Probleme im Aushalten von Widersprüchen und dem „Miteinander-Auskommen-müssen“.
So beschreibt ein ehemals in Romrod aufgewachsener, aus einer Vertriebenenfamilie stammender Journalist und Buchautor das Lebensgefühl des damals Jugendlichen folgendermaßen: “Romrod, das kann man nicht oft genug sagen, war trotz aller Entbehrungen, die Menschen in den späten 40er und frühen 50er Jahren auf sich nehmen mussten, dörfliche Romantik pur. Ein Freiraum, Felder und der Wald, aus dem man sich mit Brennholz versorgen konnte, im Herbst mit Pilzen, waren nicht weit. Zur Erntezeit sammelte man Ähren und drosch sie aus, füllte damit die Kaffeemühle, die – wie die Mohnmühle – zu jedem ordentlichen sudetendeutschen Haushalt gehörte. Und es gab das Schloss, eine ehemalige Wasserburg, mit einem Wehrgang. Von ihm konnte man weit ins Tal schauen. In dem Schloss waren vornehmlich Familien aus dem Sudetenland und aus Schlesien, dazu noch einige „versprengte“ Hessen und Rheinländer notdürftig einquartiert.”
Die 1950er und 1960er Jahre
Die Gründung einer Möbelfabrik Anfang der 1950er Jahre, die gestiegene Einwohnerzahl mit einer größeren Nachfrage nach Gütern des täglichen Bedarfs sowie die Nähe zur Kleinstadt Alsfeld bestimmten die Nachkriegsentwicklung des Ortes und seine Bedeutung als Wohn- und Arbeitsort. Dazu trugen auch verschiedene ansässige und neu gegründete Handwerksbetriebe und eine Anzahl von Handels- und Dienstleistungsgeschäften für die Versorgung und Deckung des täglichen Bedarfs bei.
Romrod hatte in den 1960er Jahren neben der sich stetig entwickelnden Möbelfabrik unter anderem eine Schmiede mit Schlossereibetrieb, vier Lebensmittelläden, eine Apotheke, zwei Allgemeinärzte, sechs Gastwirtschaften, zwei Metzgereien, zwei Bäckereien, Friseure, ein Tuch- und Kurzwarengeschäft, zwei Schreinerbetriebe, ein Elektrogeschäft mit Verkauf und Montage, ein Bauunternehmen sowie Holzfuhrbetriebe. Die Landwirtschaft spielte seit dieser Zeit eine zunehmend geringere Rolle. Insbesondere das politisch geförderte zunehmende Verschwinden der kleinbäuerlichen Nebenerwerbsbetriebe ab Mitte der 1960er Jahre, die Ausweisung eines größeren Baugebietes am östlichen Ortsrand und die Zunahme der zu auswärtigen Arbeitsplätzen pendelnden Erwerbspersonen bereiteten den Wandel hin zur Auspendlergemeinde vor. In diese Zeit fällt auch die Räumung des Schlosses und die Errichtung zweier Mehrfamilienhäuser mit 6 bzw. 8 Wohneinheiten durch die Gemeinde zur Bereitstellung von Wohnraum.
Der Siedlungsgrundriss des älteren Ortskerns ist der eines Haufendorfes, an dessen Rändern seit Ende des 2. Weltkrieges sukzessive Siedlungserweiterungen erfolgten. Vor allem das ab den 1960er Jahren in mehreren Bauabschnitten erweiterte Baugebiet am östlichen Ortsrand führte zu einer im Gegensatz zur gleichzeitig gestiegenen Bevölkerungszahl überproportionalen Vergrößerung der Siedlungsfläche mit der Folge des Wegfalls landwirtschaftlich nutzbarer Flächen.
1967 wurde in Romrod eine damals moderne “Mittelpunktschule” eingeweiht, um den geregelten und aktuellen Standards entsprechenden Schulbetrieb für die Schüler und Schülerinnen aus Romrod und den umliegenden Orten zu ermöglichen.
In die Zeit Ende der 1960er Jahre und der Gebietsreform zu Beginn der 1970er Jahre fiel die infrastrukturelle „Modernisierung“ des Ortes mit dem Ausbau von Wasser- und Abwassersystemen, dem gezielten Abriss von Gebäuden zur Verwirklichung des damaligen Leitbildes vom “ungehindert fließenden Kraftfahrzeugverkehr” und dem innerörtlichen Ausbau und der Asphaltierung des Straßen- und Gehwegenetzes.
Die 1970er und 1980er Jahre
Anfang der 1970er Jahre wurde durch private Kapitalanleger ein als Kneipp-Sanatorium konzipiertes Haus gebaut, welches anfangs zu einer gastronomischen Belebung des Ortes beitrug. Nach wenigen Jahren wurde das Konzept aufgrund veränderter gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen allerdings obsolet. Nach dem Verkauf des Hauses um 1980 wurde das Haus unter seriöser Leitung als Hotelbetrieb unter wechselnden Namen bis 2009 weitergeführt. Mit dem Verkauf an einen „chinesischen Investor“, der mit anmutig klingendem Konzept Hoffnungen in der Kommunalpolitik weckte, begann innerhalb weniger Jahre der Abstieg des Hauses zu einer verfallenden Ruine, auf neudeutsch zu einem sogenannten „Lost Place“ – einschließlich aller Probleme, welche die Anziehungskraft solcher Gebäude in der medial geprägten Gesellschaft nach sich zieht.
Mit der Schließung der Möbelfabrik zu Beginn der 1980er Jahre kam es zu einem weiteren Verlust gewerblicher Arbeitsplätze. Der Status als Auspendlergemeinde verfestigte sich. Die damit einhergehende allmähliche Auflösung der soziokulturellen Zusammenhänge in der „Alteingesessenen“-Gesellschaft förderten stärker auf Anonymität basierende Umgangs- und Wahrnehmungsweisen und wurden, in unterschiedlichen Abstufungen, zunehmend prägend für das Zusammenleben im Ort.
Soziologische Aspekte der Modernisierung
War es in früheren Zeiten so, dass die Menschen vieles voneinander wussten, inklusive der familiären und lebensweltlichen Zusammenhänge, verschwand mit dem Funktionsverlust des Ortes als gemeinsamer Arbeitsbereich, mit dem Generationenwechsel sowie der größer werdenden Zahl von zugezogenen Neubürgern sukzessive dieses Wissen voneinander. Eine solche Entwicklung führt generell dazu, das Gefühl von emotionaler Zugehörigkeit zu einer als örtliche Gesellschaft bezeichneten Menschengruppe schwächer werden zu lassen und zunehmend durch distanzgeprägte Umgangsweisen zu ersetzen. Es ist dann z.B. nicht mehr selbstverständlich, dass Menschen sich automatisch grüßen, wenn sie sich auf der Straße begegnen. Ebenso verschwindet der früher vorherrschende örtliche Sprachdialekt. Auch dies Ausdruck dessen, was soziologisch gesehen Modernisierung ausmacht.
Die 1990er Jahre: Schloss und Ortskern
Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist die Revitalisierung des Schlosses, welches in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren von der Hessischen Denkmalschutzstiftung erworben und saniert wurde. Es diente anschließend als Seminarort für die Stiftung und beherbergt heute einen frequentierten Hotelbetrieb, insbesondere für Hochzeitsfeiern auswärtiger Gäste, deren Trauungen in dem in der nahegelegenen ehemaligen Synagoge zeitweise etablierten Standesamt erfolgen.
Das ebenfalls um diese Zeit in unmittelbarer Nähe realisierte Schlossmuseum, hervorgegangen aus dem Umbau einer ehemaligen Scheune, vervollständigt ein konzeptionell interessantes Ensemble.
Romrod heute
Heute ist Romrod Sitz der Stadtverwaltung der Großgemeinde und Standort verschiedener öffentlicher und privater Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen und -betriebe. Dienstleistungen, Handel, Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, Hotel- und Gaststättengewerbe und mittelständisches Handwerk bilden die Wirtschaftsstruktur und übernehmen teilweise Versorgungsfunktionen für die Bevölkerung der übrigen Stadtteile.
Die Landwirtschaft im Ort spielt hinsichtlich Erwerbstätigkeit nur noch eine marginale Rolle. Die drei Vollerwerbsbetriebe, deren Betriebsgebäude bis auf wenige Teilbereiche alle außerhalb der bebauten Ortslage angesiedelt sind, kämpfen mit Preis- und Kostenproblemen.
Romrod wirbt für sich mit dem Lob der kleinen Stadt und sucht seinen Platz als städtische Kommune in einer durch enorme Umbrüche gekennzeichneten Gesellschaft. Die 825-Jahrfeier im Jahre 2022 könnte auch eine Gelegenheit sein, sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Lokalen und seines Stellenwertes in der globalen Gesellschaft bewusst zu werden.