Ein Glockenarchiv der besonderen Art: Tonmeister Rainer Gutberlet aus Romrod sammelt Geläute von Kirchen im Vogelsberg
Von Traudi Schlitt (Text und Fotos), Evangelisches Dekanat Vogelsberg
Rainer Gutberlet hat einen Plan – und der hört sich gut an. Im wahrsten Sinne des Wortes: Der Ingenieur für Nachrichtentechnik möchte die Geläute aller Kirchen im Vogelsberg aufnehmen und sie auf Tonträgern archivieren und zur Verfügung stellen. Auf diese Weise können die Kirchenglocken online oder auf Webseiten läuten, sind immer verfügbar und das Schönste: Sie sind perfekt aufgenommen, perfekt abgemischt und sie klingen dann auch entsprechend – manchmal sogar schöner als das echte Geläut, für dessen Genuss man den optimalen „Hörplatz“ haben und vorbeifahrende Fahrzeuge oder schwatzende Menschen ausblenden muss. Wenn es dann in den wenigen Städten im Vogelsberg noch ein Stadtgeläut gibt – das Zusammenspiel aller Kirchenglocken vor Ort -, dann mischt der Tonmeister auch dieses so zusammen, dass es nicht schöner klingen könnte: Musikalische Erinnerungen für die Ewigkeit oder zumindest für die Haltbarkeitsdauer der Datenträger.
Vierundzwanzig Jahre lang hat Gutberlet an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) Studenten im Bereich der Nachrichtentechnik ausgebildet. Er hat Tonregieanlagen für Rundfunk, Fernsehen und Theater projektiert und in seinem Auto einen kleinen Ü-Wagen eingerichtet, um musikalische Großveranstaltungen wie z.B. die Orgelsommer in Nieder-Moos schnell und verlässlich aufzunehmen. So weit, so interessant – doch wie kommt man von da zu der Idee, alle Glocken eines Kreises aufzunehmen?
Mit der Kirchengemeinde Alsfeld begann alles
Die erste Anfrage nach der Aufnahmen eines Glockengeläuts stellte die Kirchengemeinde Alsfeld vor bald dreißig Jahren: Gutberlet nahm anlässlich von Jubiläen in der katholischen und evangelischen Kirchengemeinde erstmals die Geläute der Kirchenglocken aller drei Alsfelder Kirchen auf und mischte sie zu einem Stadtgeläut zusammen: Mehr als dreihundert Kassetten wurden damals davon verkauft. Als der Ingenieur später einen Wahlpflichtkurs Tontechnik für Studenten der THM anbot, kam er auf die Idee, die Glocken als Beispiel für die Aufnahme sehr, sehr lauter Töne heranzuziehen. Die Gruppe widmete sich allen vier Kirchen in Friedberg, entstanden ist daraus die CD „Die Glocken von Friedberg aus acht Jahrhunderten“, die Gutberlet in seinem Studio in Romrod fertigstellte. „Man muss genau wissen, wie Physik und Mathematik hier wirken“, sagt der Aufnahmespezialist, „denn Glocken bringen Aufnahmegeräte an ihr physikalischen Grenzen.“ Und nicht nur die Geräte: 134 dBSPL (=Schalldruckpegel in Dezibel) bedeuten auch für das menschliche Ohr das Erreichen der Schmerzgrenze.
Rente für das Glockenprojekt? Von wegen!
2014 ging das Glockenprojekt mit Rainer Gutberlet in Rente und ließ ihn dort erst recht nicht los. Er schaute sich im Internet Videos an und war stellenweise sehr ernüchtert, wie vermeintliche Experten zu Werke gingen. Bald machte er eigene Versuche mit den Kirchenglocken im Vogelsberg. Auf einer umfangreichen Liste arbeitet der Vierundsiebzigjährige alle Kirchen ab, die mehr als eine Glocke haben, die Hälfte davon hat er schon. Auf diese Weise hat er nicht nur Festplatten voller Tondaten gewonnen, sondern auch jede Menge Fachwissen über die Kirchen: „Die katholische Kirche mit ihrem fünfstimmigen Geläut ist in dieser Hinsicht die größte im Kreis, gefolgt von der Walpurgiskirche, die vierstimmig läutet und dazu noch eine Vater-Unser-Glocke hat“, gibt Gutberlet bekannt. Einblick erhält er ganz nebenbei auch in die bauliche Substanz der Kirchen: „Hier sieht es gar nicht gut aus“, so sein Eindruck, „doch das ist ein anderes Thema.“
Bislang drei Doppel-CDs mit bis zu 80 Aufnahmen
Zu seiner Aufnahmetechnik verrät er, dass er jede Glocke einzeln aufnimmt und das Geläut dann zuhause am Rechner zusammensetzt. „Auf diese Weise wird die Klangbalance optimal, denn im Zusammenspiel gehen kleinere Glocken gerne unter. Hier kommen sie dann gleichberechtigt zu Gehör“; sagt der Ingenieur. „Dadurch wird die Aufnahme harmonischer als sie in der Realität zu hören ist, da man dort immer von verschiedenen Faktoren abhängig ist.“ Ferner können die Ein- und Ausläutesequenzen unabhängig voneinander bestimmt und das Geläut der Einzelglocken beliebig verlängert oder gekürzt werden. Gutberlets bevorzugter Aufnahmeort ist innen im Raum (also ohne störende Nebengeräusche, die man bei der Postproduktion so gut wie nie ganz wegbekommt, wie er sagt) und dort in der Regel ein Stockwerk unterhalb des Glockenbodens. Eine Aufnahme muss daher gut geplant sein: Der Küster muss mitmachen und die Gemeinde muss informiert sein, dass es außerplanmäßig läutet. Und es darf nicht zu kalt sein. Denn das ist nicht nur ungemütlich, sondern auch für die Geräte nicht gut. „Aber das läuft alles sehr unproblematisch“ freut sich der Ingenieur, der inzwischen drei Doppel-CDs mit bis zu 80 Aufnahmen verschiedenster Vogelberger Kirchen veröffentlicht hat. Auf etwa vier Minuten begrenzt er hier die Aufnahmen, hinzukommen Ein- und Ausläuten.
Ihm persönlich gefallen einige Geläute besser als andere, auch wenn er sich ungern auf ein Lieblingsgeläut festlegen lassen möchte. „Das Stadtgeläut in Herbstein ist allerdings wirklich sehr schön“, gibt er dennoch zu, „es ist sehr harmonisch.“
Vogelsberger Glocken-Mix „möglich, aber sinnlos“
Wenn Rainer Gutberlet einen Blick in sein hauseigenes Tonstudio gewährt, dann wird schnell klar: Hier sitzt nicht nur ein Experte, sondern ein leidenschaftlicher Fachmann, der seine Passion schon über Jahrzehnte mit Akribie und großem Engagement verfolgt. Dabei kann er noch davon berichten, wie das Schneiden als wirkliches Schneiden, nämlich an Tonbändern funktionierte. Er wird nicht müde zu erklären, wie er die Geläute am besten zusammensetzt und abmischt, um den Hörern größtmöglichen Genuss zu bescheren. Selbst musikalische Logos erarbeitet er – Tonfolgen, deren Buchstabenwert sich zu verschiedenen Slogans zusammensetzen.
Sechsundachtzig Geläute aus dem Vogelsberg hat Rainer Gutberlet bisher zusammengetragen. Drängt sich natürlich zum Abschluss die Frage auf, ob er an einem allumfassenden Vogelsberggeläut arbeitet. So viele Glocken zusammenzumischen ergäbe nach Meinung des Experten nur noch ein Rauschen: „Das wäre zwar möglich, aber sinnlos.“