Rockin’ Around the Christmas Tree: Wie der Weihnachtsbaum von Romrod nach Amerika kam
Eine wissenschaftliche Weihnachtsgeschichte von Frank Mehring
Fragt man auf dem Campus der Elite-Universität Harvard in Cambridge, Massachusetts, woher die Tradition des Christbaums in den USA stammt, stehen die Chancen gut, dass man den Namen des charismatischen Romröders Karl Follen hört. Denn außerhalb von Cambridge kann man die „Follen Christmas Trees“ kaufen (siehe Foto oben) und sich damit ein Stück transatlantische Geschichte ins Wohnzimmer holen.
Follen, 1796 in Romrod geboren, war nicht nur bekannt dafür, seit 1830 die erste Professur für deutsche Literatur in den USA zu leiten. Er gründete auch die Cambridge Anti-Slavery Society zur Befreiung der Sklaven und wirkte als Priester in der nach ihm benannten Follen Church in Lexington, MA, nahe Boston. In Deutschland wird seine Rolle in den Befreiungskriegen und dem Attentat auf Karl Sand besonders kritisch diskutiert. In den USA gilt er außerdem als Kulturvermittler, der die Tradition nach Amerika brachte, an Weihnachten eine Fichte oder Tanne im Wohnzimmer aufzustellen, sie zu dekorieren und gemeinsam mit Familie und Freunden die Geburt Jesu Christi zu feiern.
Brachte wirklich ein Romröder den Weihnachtsbaum nach Amerika?
Doch kann das wirklich wahr sein? Die Quellenlage ist vielfältig und unübersichtlich. Zwar wird vermutet, dass deutsche Einwanderer in anderen Orten, etwa Germantown in Pennsylvania, die Tradition des geschmückten Weihnachtsbaums ebenfalls aus ihrer Heimat in die Neue Welt brachten. Doch einer der frühesten schriftlich überlieferten Belege steht im Zusammenhang mit Karl Follen.
„Ich war Zeuge der Einführung des deutschen Weihnachtsbaumes in das neue Land“, schrieb Harriet Martineau (1802–1876) in ihrem Reisetagebuch. Diese Aussage stammt aus der Zeit, als sie um die Weihnachtszeit bei den Follens in Cambridge zu Besuch war.
Die englische Schriftstellerin Harriet Martineau gilt als Pionierin der Soziologie, die sich leidenschaftlich für soziale Reformen einsetzte, insbesondere in den Bereichen Geschlechtergleichheit, Bildung und Abolitionismus. Als scharfe Kritikerin von Sklaverei und Unterdrückung wurde sie 1834 von den Follens eingeladen, um über die Reformbewegungen in den USA zu sprechen. In ihrem Reisetagebuch Retrospect of Western Travel (1838) verarbeitete sie diese Begegnung und beschrieb lebhaft den Abend, an dem sie zum ersten Mal die Tradition des Weihnachtsbaums in den USA erlebte.
Tradition vom Jägertal bis Cambridge
Follen hatte in eine der angesehensten Familien Neu-Englands eingeheiratet und erhielt 1830 mit besonderem Stolz die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im gleichen Jahr wurde sein Sohn Charles Christopher geboren. Man kann mit großer Sicherheit annehmen, dass Follen seine eigenen Kindheitserinnerungen an die Weihnachtsbaumtradition auch an seinen Sohn Charles weitergeben wollte. Und: Sollte nicht im Forsthaus Romrod, wo sein Urgroßvater als Forstbeamter lebte, ein Weihnachtsbaum aus dem angrenzenden Jägertal gestanden haben?
Martineau beschrieb detailliert, wie Follens weihnachtlich geschmückter Christbaum aussah:
„[Alle waren] damit beschäftigt, die letzten sieben Dutzend Wachskerzen anzubringen und die vergoldeten Eierbecher sowie die bunten Papiertüten mit Konfekt, Lutschern und Gerstenzucker zu füllen.“ Follen hatte die Spitze einer jungen Tanne verwendet und sie in einem mit Moos verzierten Bottich aufgestellt. „Hübsche Puppen und andere Spielereien glitzerten in dem immergrünen Geäst, und es gab keinen Zweig, der nicht irgendetwas Funkelndes trug.“
Die Tür zum vorderen Wohnzimmer wurde geschlossen, damit Charley, der Sohn der Follens, und drei weitere Kinder aus dem Familienkreis die Überraschung noch nicht sehen konnten. Martineau spielte mit den Kindern, im Kamin flackerte ein Feuer, man trank Tee und Kaffee und gab sich betont unbedarft.
„Der Raum schien zu leuchten“
Der Höhepunkt des Abends – und die Beschreibung, die oft als Begründung für die Weihnachtsbaumtradition in den USA gilt – folgte dann.
„Der Anblick war wirklich wunderschön“, erklärte Martineau. „Der Raum schien zu leuchten, und die Dekorationen waren so geschickt angebracht, dass kein Unfall passierte außer dass der Rock einer Puppe Feuer fing. Aber wir hatten einen nassen Schwamm an einem Stock befestigt, um jede überflüssige Flamme zu löschen, und es entstand kein Schaden. Ich kletterte hinter den Baum auf die Stufen, um zu sehen, wie es aussah, wenn die Türen geöffnet wurden. Es war herrlich. Die Kinder stürmten hinein, doch im selben Augenblick verstummte jede Stimme. Ihre Gesichter waren dem Licht zugewandt, alle Augen weit geöffnet, alle Münder leicht aufgesperrt, und alle Schritte hielten inne. Niemand sprach; nur Charley hüpfte vor Freude. Das erste Lebenszeichen nach der anfänglichen Erstarrung war das Umherwandern der Kinder um den Baum. Schließlich entdeckten ein paar flinke Augen, dass der Baum etwas Essbares trug, und von diesem Moment an begann das fröhliche Durcheinander von Neuem. Sie durften sich nehmen, was sie erreichen konnten, ohne sich zu verbrennen, und wir Erwachsenen passten auf und halfen ihnen, die Leckereien von den oberen Zweigen zu pflücken.“
Wir wissen, dass Lieder und Gesang für Follen eine bedeutende Rolle spielten. Egal, ob wir am 24. Dezember „Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen“ singen oder „Rockin’ Around the Christmas Tree“ streamen – wir können an den Romröder Freiheitskämpfer und transatlantischen Kulturvermittler Karl Follen denken, der mit seinem Weihnachtsbaum einen besonderen Beitrag zur globalen Christmas culture leistete.
Frank Mehring lehrt als Professor für Amerikanistik an der Radboud Universität mit Schwerpunkt auf transatlantischem Kulturaustausch.
Derzeit arbeitet er an einer neuen Karl-Follen-Biografie unter dem Titel „Das Große Lied der Freiheit.“
Weihnachten verbringt er mit seiner Familie in Romrod.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Oberhessischen Zeitung vom 21. Dezember 2024.