Vor 130 Jahren: Als das große Feuer in Zell 45 Hofreiten vernichtete
Von Otto Ling (Text & Bild)
Der 5. Mai gilt als einer der schwärzesten Tage in der Geschichte des Dorfes Zell. Vorgestern vor 130 Jahren, am 5. Mai 1893, brannte der Ort fast vollständig ab. Schon seit Tagen blies ein scharfer Ostwind über die Felder, der alles austrocknete. Dazu strahlender Sonnenschein und wolkenloser Himmel. Viele Familien waren beim Mittagessen, als der Schreckensruf „Feuer“ erklang und die Glocken der Kirche Sturm läuteten. Jedermann stürzte auf die Straße, noch nicht ahnend, welch furchtbares Unglück das Dorf treffen würde. Man brauchte nicht mehr nach dem Brandherd zu fragen; haushoch schlugen die Flammen zum Himmel. Zwischen der Schulscheune und der Scheune des damaligen Bürgermeisters Johannes Dippell war das Feuer ausgebrochen. Spielende Kinder hatten in einem unbewachten Moment ein Feuerchen angezündet und so den Brand verursacht.
Binnen Minuten brannten fünf Hofreiten
Im Nu trieb der starke Ostwind die Flammen zur „Post“, einem Durchgang in der Nähe der Kirche. In wenigen Minuten brannten fünf Hofreiten, die an dieser Seite der Straße eng aneinander gereiht standen. Schon züngelten die Flammen die Straße hinüber und bald brannte auch die Hamelsche Hofreite. Nun ging es Schlag auf Schlag, denn es wurde ein Gebäudekomplex auf der anderen Straßenseite ergriffen – schnell brannten die Häuser der Anwohner Schlosser, Schneider, Graulich, Dippell und Rüger. Zur gleichen Zeit brach durch Funkenflug in der hinteren Hofgasse, dem sogenannten „Schildchen“, das Feuer aus. Die dortigen Einwohner, die bei Löscharbeiten im unteren Teil des Dorfes halfen, wurden vom Brand ihrer Häuser unterrichtet – doch als sie nach Hause geeilt waren, lagen ihre Unterkünfte bereits in Schutt und Asche.
Die Feuersbrunst fraß 45 Hofreiten
Inzwischen hatte der Wind etwas nach Nordost gedreht und das Feuer änderte seine Richtung zur Ludwigstraße hin, dem heute noch genannten „Zeppe“. Erst an der Hofreite Kornmann konnten die Flammen eingedämmt werden. Bis zum nächsten Morgen wütete die Feuersbrunst. 45 Hofreiten mit 120 Gebäuden waren dem Feuer zum Opfer gefallen. Der Schaden belief sich auf 400.000 Mark. Wie furchtbar es auf der riesigen Brandstätte aussah, ist in alten Überlieferungen zu lesen: „Ein grauenerregender Anblick bot die Brandstätte dar. Mehr als die Hälfte des Dorfes bildete eine rauchende Trümmerstätte. Groß ist der Jammer der vom Schicksal so unerwartet Heimgesuchten; grauenhaft und mitleiderweckend der Anblick des unglücklichen Ortes. Heute ist der schönste Teil des Ortes ein rauchender Trümmerhaufen, der aussieht als wäre er von Kanonen zusammengeschossen worden“. Verschont blieben nur einige Häuser im hinteren Zeppe und im oberen Dorf, beim alten Wehrgang.
Verkohlte Papierfetzen flogen bis nach Nieder-Ohmen
Wie konnte das Feuer eine so ungeahnte Ausdehnung gewinnen? Die Gebäude waren mit Hohlziegeln gedeckt, die mit Strohpuppen „gefüttert“ waren. Auch die sehr großen Flachsvorräte gaben dem Feuer reichlich Nahrung. Wie richtig diese Annahme ist, bestätigt ein Bericht vom 6. Mai 1893, in dem es heißt: „Neben dem Sturm sind an der Ausbreitung des Brandes die unglückseligen Hohlziegeln mit ihren Strohpuppen mit schuld. Sie sollten, da ihre Feuergefährlichkeit größer als die der bekannten Strohdächer ist, überall verbannt und verboten werden“. Auch der Umstand, dass das Haus des damaligen Gemeinderechners, an dem das Feuer Halt machte, nicht mit solchen Hohlziegeln, sondern mit Plattziegeln (Biberschwänzen) gedeckt war, bestätigt diese Annahme. Wie groß das Ausmaß des Brandes und wie heftig der Sturm gewesen war, sieht man daran, das Stroh- und Flachsknoten, sogenannte „Ommen“, bei Ehringshausen und Nieder-Gemünden sowie verkohlte Papierfetzen mit noch erkennbarer Aufschrift bei Nieder-Ohmen aufgefunden wurden.
Tröstlich: Menschenleben waren nicht zu beklagen
Bei aller Größe des Unglücks war es ein Trost, dass Menschenleben nicht zu beklagen waren. Lediglich ein älterer Mann und ein Kind mussten unter Lebensgefahr aus den brennenden Gebäuden gerettet werden. Ein Berichterstatter jener Zeit schreibt davon: „In einer Gastwirtschaft, die ebenfalls mit allen Vorräten abbrannte, befand sich ein alter schwerkranker Mann. Mit Gefahr rettete man ihn aus dem brennenden Haus; in einem Bett lag er zwischen brüllendem Vieh auf einer Wiese, ein herz zerreisender Anblick“. Und weiter: „Erst nachträglich ist bekannt geworden, dass bei dem großen Brandunglück ein kleines Kind in größter Lebensgefahr schwebte, aus der es ein beherzter Mann rettete. Man hatte bei Beginn des Brandes das kleine Wesen in ein entfernt stehendes Haus getragen. Aber auch in dieses Haus wurde die Brandfackel geschleudert. Schon stand dasselbe in Flammen, da fragte man nach dem Kind. Mutig drang ein Mann durch Qualm und Rauch und rettete das Kind im Augenblick höchster Gefahr“.
Spenden linderten erste Not, Handwerker kamen aus ganz Hessen
Nachdem sich die Bewohner vom ersten Schrecken erholt hatten, gingen sie daran, die auf die umliegenden Wiesen geretteten Gegenstände zu ordnen und zu verteilen. Dass auch schon in der damaligen Zeit Langfinger ihr Unwesen trieben, darf nicht weiter wundern. Der größte Teil des geretteten Viehs kam zum Verkauf. Hier wirkte sich noch ein günstiger Preis aus, während im Sommer des Jahres der Preis in den Keller rutschte.
Seitens der Bürgermeisterei und des evangelischen Pfarramtes wurde sofort eine Hilfsaktion eingeleitet. Dank der Opferwilligkeit der Mitmenschen konnte die erste große Not gelindert werden. Insgesamt gingen 6411,62 Mark ein, daneben reichlich Lebensmittel, Kleidung und Viehfutter. Noch im selben Jahr begann der Aufbau. Viele Wirtschaftsgebäude wurden errichtet. Damit die erste Not gelindert wurde entstanden über den Ställen Wohnungen. Handwerker aus ganz Hessen waren tätig und Zell glich einem Heerlager.
Etwa 15 Jahre lang wurde dem 5. Mai als Brandtag durch Arbeitsruhe und einem Gottesdienst gedacht. Durch den 1. Weltkrieg geriet der Tag in Vergessenheit. Nur bei späteren Bränden erinnerte man sich an den unglückseligen Tag. Im Dorf selbst kann man auf zwei Dächern noch die Jahreszahl 1893 erkennen. Die Wiedererrichtung der Gebäude erfolgte großzügig. So kennt man in Zell keine engen und winkligen Gassen mehr. Breite Straßen und große Hofreiten prägen heute das Dorfbild.
Foto: Das Anwesen ehemals Riegelmann am Frauenberg