Wenn jede Minute zählt: Im Vogelsberg gibt es 450 ehrenamtliche Voraushelfer – und weitere werden gesucht
Ein schriller Warnton durchbricht die lähmende Stille dieses heißen Sommertages in der Kleingartenkolonie. Uwe G. zuckt zusammen. War das sein Handy? Der Ton ist so anders? Ein kurzer Blick auf das Display genügt und schon springt der junge Mann auf, sprintet los – zu seinem allerersten Einsatz als Voraushelfer im Vogelsbergkreis. Zugegeben: Die Situation um Uwe G. ist frei erfunden, sie hätte sich aber genauso abspielen können an irgendeinem Tag im Vogelsbergkreis. Denn seit genau einem Jahr sind die Voraushelfer im Einsatz, werden immer dann gerufen, wenn ein Patient wiederbelebt werden muss. „Der plötzliche Herztod kann jeden treffen – völlig ohne Vorwarnung. Da muss schnellstens reagiert werden. Jede Minute zählt. Deshalb haben wir das Projekt Voraushelfer am 15. August vergangenen Jahres gestartet“, erläutert Rettungsingenieur Martin Gonder, der das Ganze gemeinsam mit Dr. Dennis Humburg, dem ärztlichen Leiter des Rettungsdienstes, initiiert hat und bis heute betreut.
Jede Minute ohne Reanimation sinkt die Überlebenschance um 10 Prozent
„Rettungsdienstlich sind wir gut aufgestellt, aber der Vogelsbergkreis ist ein Flächenlandkreis, wir haben nun einmal unsere Anfahrtswege“, schildert Gonder die Ausgangslage. Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand aber ist die Zeit der alles entscheidende Faktor, „denn schon nach zwei Minuten gehen Gehirnzellen unwiederbringlich verloren“, erklärt Dr. Dennis Humburg und schiebt nach: „Es geht ums nackte Überleben, denn mit jeder Minute, in der nicht reanimiert wird, sinken die Chancen des Patienten um zehn Prozent.“
Deshalb ist es so wichtig, dass selbst die kurze Zeit, bis der Rettungsdienst vor Ort ist, überbrückt wird. Und genau an diesem Punkt kommen die Voraushelfer ins Spiel. Zunächst, so führt Martin Gonder aus, hat man sich natürlich auf die Ehrenamtlichen aus den Rettungsdiensten, dem Katastrophenschutz und den Feuerwehren konzentriert. Sie wurden angeschrieben und nach einer Schulung konnte das Projekt am 15. August vergangenen Jahres starten – mit sage und schreibe mehr als 100 Voraushelfern. Heute sind es fast 450 Ehrenamtliche, die im Notfall zur Stelle sind. „Das Netz muss noch weiter ausgebaut werden, wir brauchen Bürger, die ehrenamtlich Gutes tun wollen, um Menschen in Not zu helfen“, appelliert Martin Gonder. Ihm ist wichtig, dass es in jedem Dorf, in jeder Gemeinde Voraushelfer gibt. „Wir müssen flächendeckend aufgestellt sein.“ Denn genau das ist der Kernpunkt des Projektes: Die Voraushelfer werden – wenn ein entsprechender Notruf eingegangen ist – georeferenziert geortet und diejenigen, die dem Notfall am nächsten sind, werden gefragt, ob sie übernehmen können. Wenn das bestätigt wird, wird am Handy der Weg zum Einsatzort angezeigt.
100 ehrenamtliche „Voraushelfer“-Einsätze in einem Jahr
So wie bei Uwe G., unserem fiktiven Fall: Der 35jährige sitzt gerade auf der Veranda seiner Gartenhütte, als ihn der fremde Klingelton des Handys irritiert. Es ist die App, die ihn zum allerersten Mal alarmiert. Ein Notfall, nur knapp 100 Meter Luftlinie entfernt. Einer der Gartennachbarn ist zusammengebrochen. Herzstillstand. Uwe G. rennt los, kommt nach nur anderthalb Minuten in dem anderen Schrebergarten an. Auf dem Rasen brummt noch der Mäher, die aufgelöste Ehefrau kniet neben ihrem Mann, G. hat nicht wirklich Zeit, sie zu beruhigen, jetzt geht es einzig und allein um den Patienten. Der Ersthelfer kontrolliert dessen Vitalfunktionen, stellt keine Atmung mehr fest, auch keinen Puls. Sofort beginnt er mit der Herz-Druck-Massage und überbrückt so die überaus wichtigen Minuten, bis der Rettungsdienst eintrifft, unterstützt dann weiter das Rettungsteam mit Notarzt, bis die den Patienten schließlich abtransportieren.
Knapp hundertmal ist es in den vergangenen zwölf Monaten zu solchen Notfällen und dem Einsatz von Voraushelfern gekommen. Martin Gonder zieht ein positives Fazit: „Das ist schon eine Erfolgsgeschichte.“ Die aber noch fortgeschrieben werden soll. „Nachdem wir im ersten Schritt vorwiegend Ehrenamtliche aus dem Rettungswesen und den Feuerwehren angesprochen haben, wollen wir jetzt diejenigen für unser Projekt gewinnen, die bislang noch nicht im Rettungswesen tätig waren. Keine Angst und keine Scheu: Wir bilden die Ersthelfer natürlich entsprechend aus“, kündigt Martin Gonder an. Wer sich näher informieren und anmelden will, kann das auf dieser Website tun.
„Defis“ sollen auch in das Konzept integriert werden
Übrigens: Martin Gonder hat noch weitergehende Pläne, er will die Vernetzung der Voraushelfersysteme auch mit anderen Landkreisen. Und er will künftig Defibrillatoren, wie sie zum Beispiel an Dorfgemeinschaftshäusern, am Bahnhof oder am Sportplatz hängen, einsetzen. Zwei Voraushelfer kümmern sich um den Patienten und der dritte Helfer holt den Defibrillator…
Man darf gespannt sein, welche Projekte sich da noch entwickeln im Amt für Gefahrenabwehr in der Vogelsberger Kreisverwaltung.